Konzert für Orchester

[1992/93] | Dauer: 28’00“

Das 100-jährige Jubiläum des Innsbrucker Symphonieorchesters war der Anlass für den Kompositionsauftrag eines größer dimensionierten Orchesterwerkes. Die konkrete Gestaltung war mir freigestellt: Was lag näher, als den Jubilar zum Thema meiner Arbeit zu machen und ein „Konzert für Orchester“ zu schreiben?

Die Bezeichnung birgt einen Widerspruch in sich, trotz der gewaltigen Assoziationen, die sich seit Bartóks epochaler Schöpfung von selbst ergeben. Erscheint doch das die Form des Konzertes bestimmende Prinzip des Miteinander-Wetteiferns, die Opposition Individuum-Kollektiv durch den scheinbaren Wegfall von Solisten aufgehoben.

Doch in Wahrheit ist es nicht der Solist, der verdrängt wurde, vielmehr ist es das Kollektiv, das sich emanzipiert, das sich selbst zum Solisten deklariert, wobei sich das streitbare Element gleichsam nach innen kehrt: Die Gruppe blättert sich auf, innere Strukturen werden sichtbar. Die musikalische Darstellung verschiedener Verhaltensmuster, wie sie typisch sind für im größeren Verbund miteinander lebender Menschen, das ergab sich für mich als Herausforderung eines zu schreibenden „Konzerts für Orchester“. Mit anderen Worten, es ist der Versuch, den „Solisten“ – das Orchester – zu durchleuchten und gleichzeitig auch die einzelnen „Steine des Mosaiks“ – die Musiker – ihrerseits sowohl als Gruppen wie auch als Individuen hörbar zu machen.

So kommen im Laufe des Stückes verschiedenste Prozesse in Gang, wie sie sich innerhalb einer Gemeinschaft ergeben können. Nur etappenweise formieren sich alle Mitglieder geschlossen zu einer Einheit. Oft bilden sich kleinere Formationen, treten gegeneinander an, in Konkurrenz oder gar kämpferisch; Individuen lösen sich ab und treten in der Vordergrund, stellen sich der Masse entgegen, oder aber es kommt zu einem „Schneeballeffekt“: Ein Einzelner gibt den Impuls (es muss gar kein „Rattenfänger“ sein!), die anderen steigen ein, und nach und nach türmt sich ein Stein auf den anderen. Bei alledem gibt es grundsätzlich zwei Verhaltens-, sozusagen „Kommunikationsmuster“: das Miteinander und das Gegeneinander. Beide gewinnen in Hinblick auf die musikalische Rhetorik Gestalt. Die Komposition pendelt immer wieder zwischen Synchronität und Asynchronität. Passagen rhythmischen „Gleichschritts“ lösen sich ab mit Abschnitten, in denen einzelne Instrumentalstimmen scheinbar unabhängig voneinander verlaufen, ja einander ausdrücklich zu widersprechen scheinen. Die Begriffe „Ordnung“ und „Chaos“ stehen dabei als Pole eines gruppendynamischen Spannungsfeldes im Raum.

Jedoch handelt es sich bei dieser Thematik nicht um eine Geschichte, die erzählt wird, die formale Struktur des Konzerts für Orchester ist rein musikalisch determiniert und keineswegs narrativ. Auch darin schien mir der Terminus „Konzert“ zuzutreffen: Es handelt sich um absolute Musik ohne außermusikalisches „Programm“.

Dies gilt im besonderen für die Form. Sie gehorcht dem Prinzip einer Dreiteiligkeit, ist aber keiner traditionellen Gattung verbunden. Kern des pausenlosen, 25-minütigen Werkes, Gravitationszentrum gewissermaßen bildet eine Fuge, die von einem schnellen, energischen Teil umschlossen wird, der sich nach seiner “Reprise” in einer rasanten Stretta aufs äußerste steigert. Um diesen schnellen Satz schließlich kreist auf einer weiteren “Umlaufbahn” ein langsamer, in Variationen gegliedeter Abschnitt, in welchem einige wichtige Solisten des Orchesters einzeln vorgestellt werden. “Ein- und Ausgangstür” bildet sodann ein ff-Akkord des gesamten Orchesters und eine damit verbundene “Auseinandersetzung” der Blechbläser.

Ein Wort noch zum Einsatz der Elektronik: Die Möglichkeiten, dem traditionellen Orchesterklang neue Farben abzugewinnen, scheinen mir nach Jahrzehnten experimenteller Pionierleistungen zum heutigen Zeitpunkt weitgehend ausgereizt. Nicht nur, weil zeitgenössische Musik in sehr vielen Fällen die Grenzen des herkömmlichen Instrumentariums gesprengt hat, auch grundsätzlich ist der Vorstoß in ungehörte Klangwelten von substantieller Bedeutung für die Entwicklung Neuer Musik. Der Anspruch, neue  Inhalte zu entwickeln, bringt die Notwendigkeit der Erschließung neuer Klangformen mit sich.

Durch die Einbeziehung der Elektronik habe ich versucht, dem Instrument „Orchester“ neue Ausdrucksmöglichkeiten, vielleicht sogar eine neue Aussagekraft zu verleihen. Ohne die Identität traditioneller Instrumente aufzugeben oder zu leugnen, mutieren deren Klangfarben in der Kombination mit Tönen aus Synthesizer und Sampler, werden verfremdet oder aber verbinden sich zu einem ungewohnten Klangereignis, dessen Ursprung faszinierend  rätselhaft bleibt. Auf diese Weise eröffnet sich die Perspektive, durch aktuelle Technologie erschlossenes Tonmaterial in das kompositorische Denken einzubeziehen, ohne dass auf die durch nichts zu ersetzende Lebendigkeit natürlicher Klangerzeugung verzichtet werden müsste. Gleichzeitig ist auch die oft beschworene Gefahr der Sterilität synthetischer Instrumente gebannt. Und darüber hinaus sehe ich gerade in der Mischung elektronischer Tonquellen mit live gespielten Instrumenten eine große Chance, die Erfordernisse eines durch übermächtige Traditionen geprägten Konzertbetriebes mit dem Anspruch nach innovativen Impulsen zu verbinden.

Martin Lichtfuss

Presse

Martin Lichtfuss komponierte nun speziell zum 100. Geburtstag des Innsbrucker Klangkörpers ein »Konzert für Orchester«, das bei seiner Uraufführung vorerst einmal am regionalen Musikhimmel als Kometenschweif aufleuchtete. […]

Lichtfuss legte […] eine technisch extrem aufwendige und rhythmisch vertrackte Partitur vor. Der Umsetzung […] widmeten sich das Orchester und sein Chefdirigent Kasper de Roo aber mit höchster Konzerntration und brillanten instrumentalen Leistungen. […]

Der Klangfarbenreichtum des Werkes – die Auswirkung einer exzellenten Instrumentation – schließt auch aufrauhende bis verspielte elektronische Effekte ein. Lichtfuss gibt den Musikern ausreichend Gelegenheit zum »Konzertieren«, zu Dialogen, aber auch zu Gegenreden.

Rainer Lepuschitz, Tiroler Tageszeitung   24-09-1993