Kafka-Fragmente

für Sprecher, Bariton, Chor, Orchester und Synthesizer [1983/84] | Dauer: 29’00“

Die Kafka-Fragmente wurden ursprünglich angeregt durch das Kafka-Jahr 1983. Als größtes Projekt im Rahmen der Diplomprüfung bildeten sie den Abschluss von Martin Lichtfuss‘ Kompositionsstudium an der Wiener Musikuniversität.

Den Text hat der Komponist selbst nach den Acht Oktavheften sowie nach den Fragmenten aus Heften und losen Blättern frei zusammengestellt. Es handelt sich um eine Collage einzelner Notizen Kafkas, zu welcher der Komponist anmerkt, „dass der Zusammenhang — der „rote Faden“ gewissermaßen, der sich durch die Anordnung der einzelnen Textfetzen ergibt — nicht Kafka selbst zuzuordnen ist, sondern wie auch die Musik als meine persönliche Stellungnahme zu diesem Autor verstanden werden sollte, die mehr mein eigenes Verhältnis zu seinen Schriften als seine Person selbst kennzeichnet“.

Die Aufteilung des Textes auf einen Sprecher, einen Sänger und den Chor setzt die zwiespältige Beziehung Kafkas zu der ihn umgebenden Gesellschaft um, wie sie sich in seiner Literatur widerspiegelt. So bilden Chor und Sprecher/Solist vielfach Antipoden und treffen oft einander widersprechende Aussagen; andererseits formt sich das Kollektiv immer wieder zum – in verschiedene Bewusstseinszustände gespaltenen – Sprecher des einzelnen und bringt so die Zerrissenheit des Individuums zum Ausdruck.

Musikalisch ist das Werk in sieben Abschnitte gegliedert und von einem kurzen Prolog und Epilog umrahmt, wobei ein sado-masochistischer Mittelteil den Bezugspunkt bildet („Ich habe einen starken Hammer…“). Harmonik und Melodik bewegen sich zwischen freier Tonalität und Atonalität und sind durch ein den Texten nachempfundenes wechselndes Metrum gebunden. Die Orchesterinstrumente werden nicht wesentlich anders eingesetzt als im traditionellen Repertoire des 20. Jahrhunderts, allerdings wird der Orchesterklang durch einen Synthesizer bereichert und verändert.

Die Kafka-Fragmente sind ein Auftragswerk des Wiener Jeunesse-Chores und diesem und seinem Leiter Günther Theuring gewidmet. Sie wurden 1987 mit dem 1. Preis der Stadt Innsbruck für Komposition ausgezeichnet.

Eberhard Harnoncourt – Sprecher; Martin Winkler – Bariton;
Rainer Bonelli – Synthesizer;
Wiener Jeunesse-Chor; Wiener Hochschulorchester
Dirigent: Günther Theuring

Ein ähnliches Verfahren in textlicher Hinsicht wandte übrigens auch György Kurtág in seinen Kafka-Fragmenten für Sopran und Solovioline aus dem Jahr 1985 an, völlig unabhängig und ohne Zusammenhang mit der vorliegenden Komposition. So verblüffend auch die Übereinstimmung hinsichtlich der Konzeptionen beider Stücke und des Zeitpunktes ihrer Realisierung auch sein mag, so unterschiedlich und unvergleichbar erweisen sich hingegen ihre musikalischen Konkretisierungen.

Presse

Schon im instrumentalen Prolog zeigt sich Lichtfuss als außergewöhnlich musikalischer und technisch versierter Komponist. […] eine bemerkenswerte Uraufführung

Albert Seitlinger, Tiroler Tageszeitung   17-05-1990

Eine Komposition, die beeindruckt, denn Lichtfuss weiß das frei- und atonale Klangmaterial geschickt mit dem Inhalt der Fragmente zu verbinden, setzt den Fragmentcharakter der Texte in Komposition um, ohne dadurch unnötige Brüche zu erzeugen oder zu versuchen, die chiffrierten Worte in eine adäquat-apokryphe Tonsprache umzusetzen. […]
Lichtfuss verleugnet auch seine persönliche Sicht nicht […] und versteht es, überzeugend (und verantwortungsvoll) mit dieser Subjektivität zu operieren.

Lichtfuss‘ »Kafka-Fragmente« […] sind ein seltener Glücksfall der modernen Musik.

Christian Baier, Österreichische Musikzeitschrift   9/1990

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